Jemand erinnerte mich unlängst auf LinkedIn an dieses hübsche Zitat: „Jedes Ding hat drei Seiten: eine gute, eine schlechte – und eine komische.“ (Karl Valentin) – und ferner an einen Wiedergänger, nämlich an das Thema: Wie lesen wir Modelle? Denn dieser Satz von Valentin ist nicht nur hübsch formuliert, sondern auch ein gelungenes Beispiel für ein häufiges Strukturprinzip: das Prinzip der Triade.
Drei Aspekt und ein Thema – das kennt man aus Philosophie, Religion oder Psychologie. Drei Positionen eröffnen einen Denk- und Deutungsraum, der Bewegung erlaubt, Ambivalenz zulässt und Entwicklung nicht auf „richtig“ oder „falsch“ reduziert. Letzteres liegt gewiss an unserer kulturellen Prägung: Aristoteles formulierte bekanntermaßen, dass es „ein Drittes“ zwischen These und Antithese nicht geben könne. Die Folgen dieser Binarität tragen wir bis heute.
Die Idee, dass sich manche Komplexität im Raum des Mehrecks höher dimensionieren lässt, ist alt: Die christliche Trinität, die Triangulation in der Psychologie, die Transaktionsanalyse mit dem Dreiklang aus Kindheits-, Eltern- und Erwachsen-Ich. Das dritte Element taucht in der Mediation als vermittelnde Instanz auf. Musikalische Akkorde, die minimal aus drei unterschiedlichen Tönen bestehen. Und man kann Akkorde umkehren, so oft man möchte, auf keinen Ton ist zu verzichten. Als Jazz-Gitarrist würde ich eher noch einen vierten hinzufügen.
Denkfiguren aus drei oder mehr Elementen helfen uns, Wirklichkeit differenzierter wahrzunehmen. Doch genau diese Strukturen werden in ihrer Bedeutung oft festgeschrieben und oft fehlgedeutet, nämlich hierarchisch.
Wir sind sozialisiert in einer Welt hierarchisierter Bilder, wie etwa der Lesekurve in Werbeanzeigen, in Organigrammen, die nicht zufällig an ein Dreieck erinnern: unten viele Figuren, oben ein paar. Auch die Maslowsche Bedürfnispyramide wurde oft genug so rezipiert: als Pyramide mit streng hierarchischer Abfolge.
Doch es ist ein Problem, Modelle konsequent hierarchisch zu lesen. Nehmen wir die Glaubenspolaritätenaufstellung (GPA). Ein Konzept, das Insa Sparrer (ich erwähne sie zuerst, was oft genug nicht passiert) und Matthias Varga von Kibéd im Rahmen ihrer systemischen Strukturaufstellungen entwickelt haben. In der GPA wird ein Werte-Dreieck aufgespannt, bestehend aus drei Polen:
Erkenntnis: Logik, Strategie, Einsicht
Liebe / Beziehung: Vertrauen, Verbindung, Mitgefühl
Ordnung / Struktur: Verantwortung, Regeln, Umsetzung
Diese drei Pole stehen für Kraftquellen, die Menschen oder Teams je nach Situation und Mustern unterschiedlich stark sehen und unterschiedlich stark nutzen. Zentral dabei ist: Die GPA basiert auf drei Polen, die - Achtung! - gleichwertig zu lesen sind. Das Dreieck hat keine Spitze, auch wenn man es auf einer Flipchart zunächst einmal so sehen kann. Und das liegt zunächst an der oben beschriebenen Konditionierung und an der räumlichen Positionierung vor einer solchen Abbildung - sagen wir in üblichen Seminarsituationen: mit beiden Beinen am Boden, oft genug auf einem Stuhl sitzend.
Die drei Pole dieser Triade sind aber gar nicht hierarchisch angeordnet, sondern prinzipiell gleichrangig. Jeder Pol enthält zudem auch die beiden anderen fraktal in sich (in etwa so, wie auf dem obigen Bild, das aber nur nebenbei). Und doch erleben viele Menschen das Dreieck anfangs anders: Was ist oben, was unten? Die hierarchische Lesart ist nicht objektiv, sondern entsteht durch entsprechende Wahrnehmung.
Und allein darum ist es z.B. sinnvoll, sich in der Beratung physisch im Raum zu bewegen, etwa zwischen Bodenankern (oder um sie herum) bzw. mit einem drehbaren Systembrett zu arbeiten, das Perspektivwechsel erlebbar macht (bei mir ein Systembrett auf einer drehbaren Käseplatte für 12 Euro noch was). Wer sich dreht und wendet, verändert den Blickwinkel. Aus „oben“ wird mit einem Mal „seitlich“, aus „fern“ wird „nah“. Das Modell selbst ändert sich nicht, aber die eigene Haltung dazu. Die vermeintliche Hierarchie ist also keine Eigenschaft des Modells. Die Hierarchisierung ist auch nicht hilfreich für die Reflexion. Im Gegenteil: Sie verstellt oft den Blick auf Entwicklungsmöglichkeiten.
„Von hier oben sieht die Welt wirklich anders aus. Glauben Sie mir nicht? Dann steigen Sie selbst hier hoch. Kommen Sie. Gerade, wenn man glaubt etwas zu wissen, muss man es aus einer anderen Perspektive betrachten.“
John Keating im Film „Club der toten Dichter“
Was für das GPA-Dreieck gilt, gilt auch für viele andere Modelle: Ihre Wirkung entsteht durch die Art, wie wir sie betrachten. Deshalb ist es ein für Berater kluger Hinweis von Matthias Varga von Kibéd, die Hierarchisierung im GPA-Dreieck explizit zurückzuweisen. Er sagt, dieses Dreieck habe gar keine Spitze. Die GPA hat stattdessen drei Türen. Durch welche Tür wir ein Thema betreten, hängt oft davon ab, welcher Pol uns gerade zugänglich ist - sei es emotional, biographisch oder kognitiv.
Und deshalb werde ich das hübsche Zitat von Karl Valentin herzlich gerne mal für den Einstieg in eine Coaching-Sitzung verwenden. Die drei Seiten eines Dings stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Manchmal – und dafür stehe ich immer gerne ein – ist nämlich Humor der entscheidende Blick zur ersten Lösung einer Situation, kein netter Appendix.
„Lösung“ bedeutet ja ursprünglich: das Losmachen, das Auflösen, das Freiwerden. Dann mal völlig losgelöst von einer Hierarchie im Satz: „Jedes Ding hat drei Seiten: eine gute, eine schlechte – und eine komische.“
Danke für die Erinnerung.