Schulleitungsteams handeln in Spannungsfeldern zwischen Schulrecht und Schulentwicklung, zwischen kollegialer Führung und institutioneller Verantwortung. Im Alltag dominieren operative Fragen, kurzfristige Entscheidungen und das ständige Reagieren auf äußere Anforderungen. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass Schulleitungshandeln selbst Kommunikation ist und dass genau diese Kommunikation immensen Einfluss auf die Qualität von Zusammenarbeit und Schulentwicklung hat.
Wer Schulentwicklung verstehen will, muss die Kommunikationsformen verstehen, in denen sie sich vollzieht. Und wer als Leitung Entwicklung anstoßen will, braucht die Fähigkeit, diese Kommunikationsformen zu beobachten – und sie gegebenenfalls zu verändern. Hier setzt Re-Entry an: Rückführung ins eigene Kommunikationssystem, um sich selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen.
Der blinde Fleck. Oder: Wenn Leitung über andere, aber nicht über sich selbst spricht
Schulleitungsteams richten ihre Aufmerksamkeit nach außen: auf das Kollegium, die Schülerinnen, die Verwaltung, das Schulrecht, Krisen oder Außendarstellung. Das ist verständlich, denn Leitung trägt Verantwortung nach außen. Doch diese Außenorientierung hat ihren Preis: Die eigene Kommunikation bleibt häufig ein blinder Fleck. Der blinde Fleck besteht darin, dass Leitung die Kommunikationsmuster des Kollegiums deutet, ohne zu erkennen, dass das eigene Team dieselben Muster möglicherweise reproduziert.
In Beratungssituationen zeigt sich dieser Mechanismus: Teams sprechen viel über das Kollegium („Einige sind sehr innovationsfreudig, andere verweigern sich“), aber selten über das eigene Kommunikationssystem. Der Blick nach innen, auf die eigenen Muster, wird übersehen, wird vermieden oder gilt als zweitrangig.
Re-Entry bedeutet daher, diesen blinden Fleck sichtbar zu machen. Es geht nicht um Schuld oder Psychologisierung, sondern um Mustererkennung: Was tut unser System kommunikativ immer wieder? Und was richtet das an?
KommunikationsFORMEN: Die Grammatik von Leitungshandeln
Jede Kommunikation enthält drei Aspekte: Meinen (M), Mitteilen (!) und Verstehen (V). Diese drei Dimensionen bilden zusammen das Fundament der sogenannten KommunikationsFORMEN. In der Praxis lassen sich Schulleitungssitzungen, Konferenzen oder Steuergruppenbesprechungen danach analysieren, welche Aspekte jeweils im Fokus stehen und welche fehlen.
Eine Schulleitung, die Anweisungen gibt („Bitte setzen Sie die neue Pausenregelung ab Montag um“), bewegt sich in der FORM !MV – eine Ansage, ökonomisch, ergebnisorientiert, klar. Eine andere Situation – etwa die Bitte an ein Kollegium, Ideen zu einem Ganztagskonzept zu sammeln – folgt eher der FORM VM!, bei der Austausch, Offenheit und Ideensammlung im Vordergrund stehen.
Keine dieser Formen ist „richtig“ oder „falsch“. Jede hat ihre Funktion. Entscheidend ist, ob ein Team erkennt, in welcher FORM es gerade kommuniziert und ob diese Form zum Kontext passt. Kommunikationssysteme sind kontextfunktional: Was in einer Krise hilfreich ist, kann in einer Entwicklungsphase hinderlich sein.
Führung bedeutet also nicht nur, Ziele zu formulieren, sondern Kommunikationssysteme passend zu den Kontexten zu gestalten. Ein Team, das dies beherrscht, ist in der Lage, flexibel zu führen: mal klar, mal dialogisch, mal kreativ, mal strukturierend.
Monotone Systeme – Wenn Kommunikation sich selbst wiederholt
In manchen Schulen entstehen im Laufe der Zeit monotone Kommunikationssysteme. Damit sind nicht „langweilige Gespräche“ gemeint, sondern strukturelle Wiederholungen: immer dieselben FORMEN und somit dieselben Anschlussmöglichkeiten.
Beispiel: Eine Schulleitung stellt auf einer Lehrerkonferenz ein neues digitales Konzept vor. Alle nicken, niemand widerspricht, Fragen bleiben aus. Die Schulleitung verlässt die Sitzung erleichtert – doch was tatsächlich passiert ist, war ggf. eine Wiederholung eines Musters: Meinen und Mitteilen dominieren, Verstehen wird vorausgesetzt, kritische Irritationen bleiben aus. Das System bestätigt sich selbst.
Monotonie entsteht, wenn Kommunikation sich auf ihre eigene Wiederholung konzentriert. Sie erzeugt Harmonie, jedoch auf Kosten der Lernfähigkeit. Innovation braucht Differenz, Reibung, Widerspruch. Monotone Systeme jedoch vermeiden Spannung, weil sie Unbestimmtheit als Bedrohung erleben.
Der Preis: Entwicklung bleibt aus. Man bewegt sich im Kreis.
Re-Entry: Wiedereintritt in die eigene Struktur
Der Begriff Re-Entry stammt aus der Formtheorie von George Spencer-Brown und wurde durch Niklas Luhmann und Gitta Peyn für soziale Systeme weiterentwickelt. Er bezeichnet den Moment, in dem ein System beginnt, sich selbst zu beobachten (sich selbst wieder in die eigene Unterscheidung einführt). Das ist keine triviale Übung. Systeme neigen dazu, ihre eigenen Muster zu stabilisieren. Wer den Re-Entry wagt, unterbricht diese Stabilisierung, und er bringt Bewegung in das, was sich eingespielt hat.
Ein erfolgreicher Re-Entry führt nicht zu harmonischer Gleichschaltung, sondern zu konstruktiver Unbestimmtheit, einem Zustand, in dem Verschiedenheit als Ressource genutzt wird. Unterschiedliche Perspektiven dürfen nebeneinanderstehen, ohne dass sofort entschieden werden muss, wer „recht“ hat.
Ein misslungener Re-Entry dagegen zeigt sich in symmetrischen Konflikten: „Wir wollen A und nicht B!“ – „Nein, wir wollen B und nicht A!“ Beide Seiten spiegeln sich, ohne auf die Ebene der Beobachtung zu wechseln. Das System kommuniziert, aber es verstetigt sich.
Reflexionsfähigkeit als Leitungsaufgabe
Re-Entry ist kein Projekt, das man einmal durchführt und dann abhakt. Es erfordert die Kompetenz, Kommunikationssysteme zu lesen, Muster zu erkennen. Diese Reflexionsfähigkeit ist die Grundlage professioneller Leitung. Sie ermöglicht, Konflikte als Ausdruck von Kommunikationsdynamiken zu verstehen, nicht als persönliche Verfehlungen. Sie verschiebt den Fokus: weg von Personen, hin zu FORMEN. Nicht: „Peter hat mal wieder widersprochen“, sondern: „Wir bewegen uns gerade in der FORM M!V, vielleicht orientieren wir das Kommunikationssystem durch ein anderes Element.“
Dieser Perspektivwechsel reduziert Personalisierung und fördert eine Kultur der Metakommunikation.
Methodische Zugänge für Re-Entry-Prozesse
In der Praxis haben sich mehrere methodische Ansätze bewährt, um Re-Entry-Prozesse in Schulleitungsteams zu fördern.
Das Reflecting Team kann eine besonders wirksame Methode sein: Während einige Personen ein Anliegen besprechen, beobachten zwei andere den Gesprächsverlauf mit Fokus auf die KommunikationsFORMEN. Sie achten darauf, wann Meinen, Mitteilen oder Verstehen dominieren, und geben anschließend ihre Beobachtungen zurück, nicht als Bewertung, sondern als Spiegel: „Uns ist aufgefallen, dass …“, „Wir haben uns gefragt, ob …“. Anschließend reflektiert die Gruppe gemeinsam: Was war hilfreich? Was bleibt?
Diese einfache Struktur erzeugt Perspektivwechsel. Sie macht Muster sichtbar, ohne sie zu pathologisieren.
Ein zweiter Zugang ist der System-Check am Ende eines Tagesordnungspunktes: Kurz die Frage in die Runde geben: „In welchen FORMEN haben wir gerade kommuniziert?“. Eine kurze Reflexion, die erstaunliche Wirkung entfalten kann.
Auch Rollenrotation kann Re-Entry fördern: Eine Person achtet in jeder Sitzung gezielt auf KommunikationsFORMEN. Oder man führt Peer Reviews durch, bei denen Kolleginnen anderer Bildungsgänge oder Schulen als Beobachter fungieren.
Solche Mikrointerventionen stärken die Selbstbeobachtungskompetenz des Systems - die Voraussetzung für nachhaltige Veränderung.
Ein Praxisbeispiel: Wenn das Leitungsteam sich selbst entdeckt
In einer Schule mit rund 1.200 Schüler:innen und fünf Abteilungsleitungen hatte sich über Jahre ein eingespieltes Muster etabliert. Entscheidungen wurden zügig getroffen, Verantwortlichkeiten waren klar, Sitzungen liefen diszipliniert ab. Doch die Dynamik im Kollegium veränderte sich: jüngere Lehrkräfte mit digitalen Kompetenzen trafen auf erfahrene Kollegen mit traditionellen Arbeitsweisen. Spannungen nahmen zu, Innovationen verliefen zäh. Das Schulleitungsteam selbst spürte die Unruhe, konnte sie aber schwer fassen. In meiner Beratung zeigte sich: Das Team kommunizierte überwiegend in der FORM !MV – also mit starker Ansageorientierung. Verstehen wurde vorausgesetzt, nicht überprüft.
Im Rahmen eines Re-Entry-Prozesses beobachtete das Team zunächst seine eigene Kommunikation. Eine Übung bestand darin, dass jede Person eine Metapher für die Schule und für die Teamkommunikation wählte. Die Bilder waren aufschlussreich: „Maschine“, „Haifischbecken“, „Sinfonieorchester“. Allein der Austausch darüber öffnete neue Perspektiven.
In der Folge beschloss das Team, am Ende jeder Sitzung einen System-Check einzuführen: „Welche Form war heute dominant? Und war sie hilfreich?“ Nach einigen Wochen wurde deutlich: Das Team lernte, zwischen Formen zu wechseln. Statt ausschließlich zu steuern, begann es, dialogisch zu fragen, zuzuhören, Unklarheiten zuzulassen. Das Ergebnis war keine perfekte Harmonie, aber eine lebendigere, lernfähigere Kommunikation.
Groupthink: Wenn Einigkeit gefährlich wird
Ein häufiges Hindernis für Re-Entry-Prozesse ist Groupthink. Dieser Begriff aus der Sozialpsychologie beschreibt die Tendenz von Gruppen, Konsens über kritisches Denken zu stellen. In Leitungsteams äußert sich das etwa durch Schweigen aus Loyalität, durch Konformitätsdruck oder durch die Unterdrückung von abweichenden Meinungen. Groupthink erzeugt scheinbare Einigkeit, schwächt aber die Innovationskraft. Entscheidungen werden unkritisch getroffen, Risiken übersehen und Alternativen nicht ernsthaft geprüft.
In der Beratungspraxis zeigt sich Groupthink oft dort, wo Teams Monotonie mit Effizienz verwechseln. „Wir sind uns einig“ klingt nach Erfolg, kann aber bedeuten, dass niemand mehr Irritationen einbringt. Re-Entry heißt, genau hier gegenzusteuern: durch den gezielten Aufbau konstruktiver Differenzen. Kritik wird dann nicht als Störung, sondern als Beitrag zur Systemintelligenz verstanden. Oder, wie es der Organisationssoziologe Stefan Kühl formuliert: „Blinde Flecken sind verbaute Lernchancen.“
Context matters: Führung entlang der Kommunikationssysteme
Eine zentrale Einsicht aus der Arbeit mit Kommunikationsformen lautet: Leadership muss sich entlang der Kommunikationssysteme aufstellen. Das bedeutet, dass Führung nicht unabhängig vom Kontext agiert, sondern mit ihm. In manchen Situationen braucht es klare Ansagen (!MV), in anderen kreative Aushandlung (VM!), in wieder anderen moderiertes Verstehen (V!M). Entscheidend ist, die Passung zwischen Systemzustand und Kommunikationsform zu erkennen. Schulleitungsteams, die diese Kontextsensibilität entwickeln, können Veränderung realistischer gestalten. Sie wissen: Man bekommt nicht immer das Optimalsystem, aber man kann das jeweils passende System wählen.
Das erfordert Mut zur Vielfalt. Denn ein Team, das nur eine Form beherrscht, verliert Handlungsspielraum. Besonders kritisch wird es, wenn Dominanz zur einzigen Kommunikationsform wird. Dann erstarrt das System.
Ein Blick auf den metaphorischen Ozean – Reflexion und Distanz
Ein poetisches Bild für den Re-Entry liefert der Film „Die Legende vom Ozeanpianisten“: Ein Mann, der auf einem Schiff geboren wird und es nie verlässt, fragt sich, wie es wäre, eines Tages an Land zu gehen – das eigene System von außen zu betrachten. Genau das leistet der Re-Entry im übertragenen Sinn: Er erlaubt Führungsteams, von Bord zu gehen, Abstand zu gewinnen und die eigene Kommunikationslogik von außen zu betrachten. Diese Distanz schafft Erkenntnis. Sie verwandelt Gewohnheiten in Beobachtungsobjekte – und ermöglicht Veränderung, ohne Schuldzuweisung.
Re-Entry ist Ausdruck einer professionellen Haltung, die davon ausgeht, dass Kommunikation nicht nur Mittel, sondern Gegenstand von Führung ist. Ein Schulleitungsteam, das sich selbst beobachtet, führt nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Zugleich möchte ich an Fritz B. Simons Satz erinnern:
„Es ist einfacher, ein Kommunikationsmuster zu verändern, als die Psyche des Menschen.”